Ausgangssituation: Kollaps in den Schutz- und Zufluchtstellen für Mädchen*

Fachkräftemangel und Auswirkungen

Der seit einigen Jahren wachsende Fachkräftemangel hat zu einem besorgniserregenden Zustand (AFET 2023) in der Kinder- und Jugendhilfe geführt. Die Soziale Arbeit steht an Platz 1 der Berufe, in denen es an Fachkräften mangelt (Institut der deutschen Wirtschaft Köln – 02.03.2023). Und das ist vor allem in dem Bereich eklatant spürbar, der den Kinderschutz gewährleisten soll. Besonders betroffen sind belastete Kinder und Jugendliche, die in Schutzstellen auf- und in Obhut genommen werden müssen.

Die IGFH (IGFH 22.11.2022) greift Berichte aus Kommunen auf, nach denen der Kinderschutz auf Grund von fehlenden Plätzen nur noch mit enormem Aufwand wahrgenommen werden kann. Etliche Inobhutnahme- und Wohngruppen mussten bereits bundesweit geschlossen werden.

Nicht nur der Fachkräftemangel, sondern auch die Belastungen der Sozialpädagog*innen, die in den Schutzstellen arbeiten, sind durch die Folgen der Krisen (Corona, Krieg, Krisen, Anstieg der häuslichen Gewalt, pandemiebedingte soziale Isolation, Flucht), denen die Kinder und Jugendlichen in den letzten Jahren ausgesetzt waren, extrem gestiegen. Hinzu kommt, dass die Bereitschaft der jungen Sozialpädagog*ìnnen im Schichtdienst zu arbeiten und den ausgeprägten psychosozialen Herausforderungen dieser Kinder und Jugendlichen fachlich zu begegnen, unter den vorliegenden Arbeitsbedingungen nur noch begrenzt vorhanden ist.

Wir als Bundesarbeitsgemeinschaft der autonomen Mädchen*häuser weisen darauf hin, dass auch die Folgen des Fachkräftemangels mit einem geschlechtsspezifischen Blick betrachtet werden müssen!

Die Situation in den Mädchen*häusern und ihren Schutzstellen zeichnet bundesweit unisono ein extremes Bild was die Personalsituation angeht als auch die psychischen Belastungen und Probleme, die die Mädchen* haben. Auf Grund von vorübergehenden Schließungen von Schutzstellen müssen viele der betroffenen Mädchen* in ihren extrem belasteten Lebensbedingungen verbleiben.
Durch die vergangenen und anhaltenden Krisen haben psychische Erkrankungen, Suizidalität, Suchterkrankungen und Medikamentenabusus und Essstörungen erheblich in den Schutzstellen zugenommen. Jedes vierte Mädchen* war bereits in der Psychiatrie und hat eine psychiatrische Diagnose, bei jedem dritten Mädchen* besteht der Verdacht auf eine psychische Erkrankung. Für viele Mädchen* ist der gleichzeitige Konsum von Alkohol, Drogen und Psychopharmaka, zum Alltag geworden.

Durch die multiplen Problemlagen sind unsere Klient*innen emotional und sozial für die Pädagoginnen* schwerer erreichbar. Viele sind psychisch kaum noch gruppenfähig und müssten in kleinen Wohngruppen, die es nicht ausreichend gibt, betreut werden. Oftmals führt das schwierige Sozialverhalten zu psycho-emotionalen Eskalationen und Gewalt in der Schutzstelle. Die Mädchen* müssen dann die Schutzstelle verlassen, werden in regulären Wohngruppen nicht aufgenommen, sondern kurzfristig in eine andere Schutzstelle verlegt. Dort wiederholt sich das Szenario. Ein Drehtüreffekt entsteht. Je häufiger sie Ablehnungen und kurzfristige Beendigungen erfahren, umso schwieriger sind sie überhaupt noch unterzubringen. In ihre Herkunftsfamilie können sie auf Grund der dort ausgeübten Gewalt oft nicht zurück. So bleibt die Straße, auf der ihnen das wieder begegnet, was sie zu Hause auch erlebt haben: sexuelle Gewalt oder sexuelle Dienstleistung für einen Schlafplatz bei Männern, eine Peergroup, die einen Mix aus Drogen konsumiert, weitere Gewalterfahrungen, Perspektivlosigkeit.

Es verstetigt sich das Erleben von Gewalt als Norm, die Reproduktion der Gewaltspiralen; vererbte transgenerationale Traumata, Mädchen* aus denen Mütter werden und dies an ihre Kinder weitergeben; Arbeitslosigkeit; Verbleib der nächsten Generation in prekären Lebenssituationen.

Inzwischen stellen immer mehr Mädchenhäuser auch eine Zunahme an Verbandungen von Mädchen* fest. Mädchen*, die sich zu Gangs zusammenschließen, um sich selbst wieder zu ermächtigen, einhergehend mit einer hohen Bereitschaft selbst Gewalt auszuüben. Teilweise bewaffnen sich Mädchen* mit Messern und v.m.

Bei Mädchen*, bei denen sich die Aggression und Verzweiflung nach innen richtet, steigt die Suizidalität. Rund jedes vierte der schutzbedürftigen Mädchen* ist suizidal oder begeht einen Suizidversuch (Statistik 2022/2023 IMMA Zuflucht). Ein vorübergehender Aufenthalt in der Psychiatrie beschränkt sich in der Regel auf eine Nacht, da die Kinder- und Jugendpsychiatrischen Kliniken ebenso überlastet sind. So dass die Mädchen* am nächsten Tag wieder in die Schutzstellen entlassen werden müssen.

Das sind nur einige Beispiele, die die gewachsene Belastung der Fachkräfte in den Mädchen*schutzstellen darstellen sollen, ruhigere Tage oder Phasen gibt es in Schutzstellen kaum noch.

Die anhaltende Überlastung führt bei den Mitarbeiterinnen* zu extremen psychischem Stress, Überstunden, vermehrten krankheitsbedingten Ausfällen und inzwischen auch Kündigungen.      

Wir stellen fest, dass das Interesse von Sozialpädagog*innen an der Arbeit in Schutzstellen eklatant abgenommen hat. Die Nachbesetzung von vakanten Stellen zieht sich inzwischen über Monate. Auch belastet der Weggang von erfahrenen Mitarbeiterinnen* die Jüngeren und vor allem die Führungskräfte.

Die Abwendung von Gefahr für Leib und Leben bei Kindern und Jugendlichen, der Kinderschutz, ist ein Grundrecht. Um das weiterhin zu gewährleisten, sehen wir folgende Nachbesserungen als dringend notwendig:

  • Eine auskömmliche Finanzierung der Schutzstellen (§42 SGBVIII)
  • Attraktive Entlohnung der schweren Arbeit in den Schutzstellen, (mindestens TVöD SuE 14 und eine Erschwerniszulage)
  • Trotz des Fachkräftemangels brauchen die Schutzstellen einen höheren Personalschlüssel, dies entlastet das vorhandene Personal und macht die Arbeit dort wieder attraktiver
  • Genügend geschlechtsspezifische Plätze für Mädchen*
  • Mehr Plätze für Mädchen* mit herausfordernden Bedarfen und inklusiven Ansätzen und einer adäquaten Finanzierung sowohl in der Inobhutnahme als auch in den weiteren Hilfen zur Erziehung.
  • Zusätzliche Mittel für Quereinsteigerinnen, die ausgebildet werden müssen und zusätzlich zum Fachpersonal eingesetzt werden können; im Einzelfall mit Qualifizierung zur Fachkraft.
  • Stärkung der Ressourcen für Leitungskräfte und psychologischen Fachdienste über Finanzierung von zusätzlichen Stunden.
  • Mädchen* mehr in den Blick nehmen, mehr vor Gewalt schützen;
  • Mehr gegen Wohnungslosigkeit von jungen Frauen* unternehmen.
  • Berufsqualifikationen aus dem Ausland schneller und großzügiger anerkennen.
  • Bundesmittel, um eine Vernetzung der Jugendhilfeträger zu gewährleisten, so dass flächendeckende und ressortübergreifende Lösungen gefunden werden können.

Es ist an der Zeit massiv personelle Ressourcen im sozialen Bereich aufzustocken. Dies gelingt insbesondere darüber, dass die Arbeitsbedingungen verbessert und entsprechend honoriert werden. Ebenso müssen mehr Studien- und Ausbildungsplätze geschaffen werden. Es geht hier um die Zukunft eines tragfähigen Systems, welches den Kinderschutz ernst nimmt und die Kinder und Jugendlichen in ihren individuellen Bedürfnissen fördert.

Hierzu gehört insbesondere auch der geschlechtsspezifische Blick und die Anerkennung, dass Mädchen* und junge Frauen* eine besonders vulnerable Gruppe sind, die einen besonderen Schutzbedarf haben.

Je mehr Gruppen schließen müssen, umso weniger Auswahl für eine passgenaue Unterbringung der Mädchen* ist möglich. Das bedeutet, dass Mädchen* mit Gewalterfahrungen in koedukativen Einrichtungen untergebracht werden.

Auch erleben wir oftmals, dass Mädchen* auf Grund fehlender Unterbringungsmöglichkeiten in Gewaltverhältnissen oder auf der Straße verbleiben.

Um eine Schließung weiter Schutzstellen, mit allen daraus resultierenden katastrophalen Folgen für den Kinderschutz und den Gewaltschutz für Mädchen zu vermeiden, besteht dringender Handlungsbedarf!

für die Bundesarbeitsgemeinschaft Mädchenhäuser e.V.
Gundula Brunner
Geschäftsführende Vorständin der IMMA e.V.

Mädchenhäuser der BAG Autonomer Mädchen*häuser
Mädchenhaus Wildwasser Berlin
Mädchenhaus Bielefeld
Mädchenhaus Bremen
Promädchen Düsseldorf
FeM Mädchenhaus Frankfurt a.M.
Vaia Mädchenhaus Frankfurt a.M.
Mädchenzentrum Gelsenkirchen
Komm Mädchenhaus Hannover
Mädchenhaus Zwei 13 Hannover
Femina Vita Herford
Mädchenhaus Kassel
Mädchenhaus Kiel
Lobby für Mädchen Köln
Mädchenhaus Mainz
IMMA München
Mädchenhaus Oldenburg
Mädchenzuflucht Wiesbaden